Im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden funkt eines der größten industriellen 5G-Forschungsnetze. Auf dem Campus Melaten der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen entwickeln und testen Forschende im engen Austausch mit der Industrie 5G-Anwendungen für die vernetzte Produktion.
In einer großen Produktionshalle düst ein kleiner grauer Transportroboter durch die Gänge. Er nähert sich einer Kreuzung. Was er nicht sehen kann: Zur gleichen Zeit bewegt sich auch ein Mensch auf die Kreuzung zu – ein Zusammenstoß scheint unausweichlich. Doch über ein 5G-Netz erhält der Roboter ein Warnsignal von einem an der Kreuzung positionierten Laserscanner. Er bleibt rechtzeitig stehen, lässt den Menschen passieren und setzt seinen Weg fort.
Der Transportroboter trägt den Namen S.A.M. und ist in der Demonstrationsfabrik des FIR an der RWTH Aachen unterwegs. FIR steht für „Forschungsinstitut für Rationalisierung“. Dort erforschen Fachleute, wie Produktionsabläufe und Datenflüsse in Unternehmen durch digitale Technologien wie 5G optimiert werden können. S.A.M. etwa lernt, mithilfe von Sensoren und einer Datenübertragung in Echtzeit, um die Ecke zu schauen. In Zukunft wird das den Einsatz von autonomen Kleinfahrzeugen in der Produktion sicherer und auch effizienter machen: „Statt mit Schrittgeschwindigkeit kann S.A.M. dann mit bis zu 30 km/h seine Aufträge erledigen“, erklärt Murtaza Abbas, Projektmanager am FIR.
Ein Blick in die Fabrik der Zukunft
Neben dem FIR erforschen und testen auch das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie (IPT) und das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen, wo 5G in der Industrie zum Einsatz kommen kann. Die drei Einrichtungen decken verschiedene Facetten der 5G-gestützten Produktion ab: Während das FIR den Schwerpunkt auf die Logistik legt, beleuchtet das Fraunhofer IPT Präzisionsfertigung und Sensorik und das WZL mobile Robotik und automatisierte Montage.
Auf dem Campus Melaten der RWTH Aachen haben die Partner dafür ein eigenes 5G-Netz aufgebaut. Es besteht zum einen aus einem Outdoor-Netz, das sich über eine Fläche von einem Quadratkilometer erstreckt. Zum anderen deckt es mit 8.000 Quadratmetern drei voll ausgestattete Maschinenhallen ab. Zusammen bilden sie den „5G-Industry Campus Europe“. Das Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr im Rahmen seines 5G-Innovationswettbewerbs gefördert.
Doch nicht nur Forschung und Entwicklung stehen beim 5G-Industry Campus Europe im Fokus. Auch der Transfer in die Praxis soll beschleunigt werden, wie Projektkoordinator Niels König vom Fraunhofer IPT deutlich macht: „Wir arbeiten Hand in Hand mit der Industrie.“ So setzen die drei Institute neben den öffentlich geförderten Projekten auch Kooperationen mit Unternehmen um, die 5G für ihre Fertigung und Logistik nutzen möchten. Das flächendeckende Campusnetz im Frequenzbereich von 3,7 bis 3,8 GHz sowie Maschinen auf dem neusten Stand der Technik, die nicht für die laufende Produktion benötigt werden, machen es möglich: „Wir bilden ein komplettes industrielles Umfeld ab und haben dabei die Freiheit, Sachen auszuprobieren. So können wir die Unternehmen bei der Entwicklung von innovativen Technologien unterstützen, die sie nicht unbedingt selbst leisten können“, erklärt Amon Göppert, Abteilungsleiter im WZL.
5G ermöglicht flexible Produktionsstätten
Auch in der Werkhalle des WZL sind mobile Roboter unterwegs, ihr Einsatzfeld ist die Montage. Ausgestattet mit Rädern und beweglichen Greifarmen können sie immer dort zur Stelle sein, wo sie gerade gebraucht werden. Zum Beispiel bei der „Hochzeit“ in der Automobilfertigung: Fahrwerk, Getriebe und Motor werden dabei in die Karosserie eingesetzt. Dies geschieht an einem Punkt in der Produktion, wo heutzutage immer mehr Autos eine individuelle Ausstattung bekommen. Deshalb ist es von Vorteil, wenn – anstelle eines starren Fließbands mit stationären Robotern – die Arbeitsstationen flexibel angeordnet werden können: „Die Unternehmen müssen ihre Produktion immer schneller anpassen – in kürzester Zeit und mit möglichst geringen Kosten“, sagt Göppert.
Und genau da kommt 5G ins Spiel: Statt immer wieder neue Kabel verlegen zu müssen, können die Geräte und Maschinen über den Mobilfunk verbunden werden. WLAN wäre dafür auch eine Möglichkeit, doch bietet 5G ein weitaus leistungsfähigeres und belastbareres Netz. Eine Vielzahl von Geräten kann das Netz gleichzeitig nutzen, um sowohl mit den Menschen als auch untereinander ohne Verzögerungen zu kommunizieren. So kann die Arbeit der Maschinen zuverlässig gesteuert und überwacht werden. Zudem ermöglicht 5G ein nahtloses Hand-over: Die Verbindung bleibt auch dann sicher bestehen, wenn sich der Roboter aus einer Funkzelle in die nächste bewegt – also zum Beispiel aus der Werkhalle auf das Außengelände fährt.
Blitzschnelle Reaktionen dank Mobilfunk und Edge Computing
Wie auch Transportroboter S.A.M. haben die mobilen Roboter im WZL einiges an Sensorik an Bord, um ihre Umgebung abzuscannen, zu navigieren und Zusammenstöße zu vermeiden. Hinzu kommen Kameras, über die Handgriffe und Schraubprozesse gesteuert und automatisiert werden können. All das erfordert eine Menge Rechenleistung, die die Roboter jedoch nicht mit sich tragen.
„Die Idee ist, dass man alle Sensordaten per Mobilfunk auf ein Rechencluster in der Nähe schickt, um sie dort schnell auszuwerten und dann als Befehle zurückzuschicken“, erklärt Göppert und zeigt dabei auf ein paar unscheinbare graue Schränke. Das nennt man Edge Computing: Anders als beim Cloud Computing findet die Datenverarbeitung nicht in einem zentralen Rechenzentrum in der Ferne, sondern direkt am Rande des Netzwerks statt, also hier in der Halle des WZL. Das beschleunigt die Verarbeitung, sodass man in Kombination mit 5G in nur wenigen Millisekunden eine Reaktion erhält.
Noch befinden sich die flexiblen Produktionsstätten im Test, Unternehmen aus der Automobilindustrie oder Luftfahrtbranche setzen sie nur in kleinen Teilen ihrer Fertigung ein. Doch Amon Göppert ist überzeugt, dass sie in Zukunft zur Steigerung der Produktivität und Senkung der Kosten in Unternehmen beitragen können. Denn zunehmende Produktindividualisierung, neue Absatzmärkte und geänderte Lieferketten fordern schon heute immer mehr Flexibilität und Wandlungsfähigkeit in der Produktion.
Mobile Roboter im Einsatz
Mehr Präzision durch kabellose Sensorik
In der Halle, die an das Bürogebäude des Fraunhofer IPT anschließt, ist das gleichmäßige Surren einer Fräsmaschine zu hören. Sie bearbeitet eine silberne Turbinenschaufel, auch „Blisk“ (Blade Integrated Disk) genannt. „Die Schaufeln sind schon ausgearbeitet“, erklärt Niels König. „Nun bekommt die Oberfläche noch ihr Finish.“ Blisks sind wichtige Bestandteile moderner Flugzeugtriebwerke. Ihre Fertigung ist, wie König erläutert, sehr komplex, denn sie werden vollständig aus einer Titanscheibe gefräst. Durch die Eigenschwingungen der Blisks können Ungenauigkeiten und Schäden entstehen. Um das zu vermeiden, überwacht ein Sensor den Prozess.
Dieser Sensor ist nicht direkt auf dem Werkstück angebracht, sondern auf dem Maschinentisch, auf dem es aufgespannt ist. Von dort aus nimmt der Sensor während der Bearbeitung die Schwingungen der Turbinenschaufel auf und gibt rechtzeitig Warnung, wenn diese das zulässige Maß übersteigen. Die Übertragung der Messdaten geschieht dabei über 5G – und somit kabellos und ohne Verzögerung. Die Fräsmaschine kann augenblicklich reagieren und ihren Produktionsprozess anpassen.
Neue Standards bringen noch mehr Möglichkeiten für die Industrie 4.0
Hohe Datenraten, kurze Reaktionszeiten und die Möglichkeit, eine Vielzahl von Geräten gleichzeitig zu vernetzen: Die Anwendungsbeispiele am 5G-Industry Campus Europe zeigen, wie der neue Mobilfunkstandard die Industrie 4.0 heute schon mit diesen Eigenschaften vorantreibt. „Aber die Reise geht natürlich weiter“, sagt Niels König. „5G wird ja stetig weiterentwickelt. Das macht es zu einem lebendigen Forschungsgebiet.“
Neben zum Beispiel einer noch zuverlässigeren Echtzeitkommunikation und geringerem Energieverbrauch soll es in Zukunft möglich sein, Geräte mit 5G mit einer Positionierungsgenauigkeit von unter einem Meter zu orten. Warenströme können so im Laufe der Produktion automatisiert verfolgt werden. „Der Mehrwert ist zum einen natürlich, dass man genau weiß, wo etwas ist. Zum anderen kann man dadurch aber auch Produktionsabläufe besser planen und vor allem auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren“, erklärt Max-Ferdinand Stroh, Bereichsleiter am FIR, wo solche Anwendungsfälle bereits erprobt werden.
Letztlich sind aber nicht nur die Forschung und enge Zusammenarbeit mit der Industrie ausschlaggebend dafür, wie schnell 5G Einzug in den Produktionsalltag halten wird: „Essenziell ist jetzt, dass auch die passenden Produkte auf den Markt kommen und dass das Wissen über die Vorteile von 5G in den Umlauf gebracht wird“, so König.
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